Die S-Bahn-Entscheidung des Kammergerichts (KG, Beschluss vom 01.03.2024 – Verg 11/22)

Die S-Bahn-Entscheidung des Kammergerichts (KG, Beschluss vom 01.03.2024 – Verg 11/22)

29.11.2024 Vergaberecht

Erkennbarkeit von Vergaberechtsverstößen, Wertungsregeln bei Einzel-, Kombinations- und Gesamtpreisen mehrerer Lose sowie zum Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers

Sachverhalt

Gegenstand des Vergabenachprüfungsverfahrens, war eine Ausschreibung der Länder Berlin und Brandenburg aus dem Jahr 2020 über Aufträge zur Lieferung, Instandhaltung und Bereitstellung von Schienenfahrzeugen und deren Betrieb für die Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn zwischen West und Ost ab den 2030er-Jahren.

Der Auftraggeber sieht vor, dass Bieter individuell gesonderte Angebote auf einen der vier ausgeschriebenen Aufträge (Lose), also Lieferung, Instandhaltung und Bereitstellung der Schienenfahrzeuge sowie deren Betrieb, abgeben dürfen (Einzelangebote). Weiterhin können Bieter ergänzend Angebote für weitere Aufträge (Kombinationsangebote) sowie Angebote für sämtliche Aufträge (Gesamtangebote) abgeben.

Die Antragstellerin sah sich insbesondere durch die Leistungsbeschreibung und Wertungskriterien gegenüber dem bisherigen Anbieter der ausgeschriebenen Leistung als möglichen Konkurrenten im Vergabeverfahren benachteiligt.

Inhalt des Beschlusses

Das Kammergericht verhandelte über insgesamt 25 Rügepunkte, lehnte einen Großteil der bemängelten Punkte jedoch als unzulässig und/oder unbegründet ab (vgl. KG, Beschluss vom 01.03.2024 – Verg 11/22). Nur in wenigen Punkten müssen die Auftraggeber bei den Vergabeunterlagen nachbessern. Nachfolgend werden aus der Gesamtentscheidung nur die aus hiesiger Sicht bemerkenswerten Punkte der Entscheidung herausgegriffen.

Preispositionen und Gleichbehandlung

Eine der für den Wertungspreis relevanten Preispositionen bestand in den Kosten für die Gleisanschlüsse der für die Errichtung von Werkstätten zur Instandsetzung der Schienenfahrzeuge zu nutzenden Grundstücke.

Dies stellt nach Ansicht des Kammergerichtes eine mit dem vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 97 Abs. 2 GWB unvereinbare Benachteiligung gegenüber dem Bestandsunternehmen als möglichen Bieter dar, da es dem Bestandsunternehmen erlaubt ist, auf seine bestehenden Werkstattgrundstücke und den dort bereits vorhandenen Gleisanschluss zuzugreifen, sodass ihm die insgesamt einen zweistelligen Millionenbetrag ausmachenden Kosten für die Erstellung eines Gleisanschlusses nicht entstehen. Im Ergebnis führe dies zu einer Bevorzugung des Bestandunternehmens, die diesem aufgrund des konkret bestehenden geringeren Kostenaufwandes ein günstigeres Angebot möglich sei.

Dieser Ausstattungsvorteil des Bestandsunternehmens beruhe gerade nicht auf einer im freien Wettbewerb errungenen Marktstellung, sondern darauf, dass es aufgrund seiner langjährigen Stellung als Bestandsunternehmen eine konkret auf den Beschaffungsbedarf bezogene günstigere Ausgangsposition habe. Solche Vorteile dürften sich in einem Vergabeverfahren für Wettbewerber des Bestandsunternehmens nicht nachteilig auswirken und sind zur Vermeidung eines Verstoßes gegen den vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 97 Abs. 2 GWB daher auszugleichen.

Der Senat hat die Auftragsgeber im Ergebnis daher dazu angewiesen, die Gleisanschlusskosten bei dem Wertungspreis nicht zu berücksichtigen.

Wertungsregeln bei Einzel-, Kombinations- und Gesamtpreisen

Die ausgeschriebenen Leistungen waren differenziert nach Lieferung, Instandhaltung und Bereitstellung der Schienenfahrzeuge einerseits sowie den Betrieb andererseits und dies jeweils aufgeteilt in zwei unterschiedliche Regionen. Die Vergabeunterlagen sahen dabei vor, dass jeweils Einzelangebote zu einzelnen Leistungen (also z.B. nur für den Betrieb in einer Region, Kombinationsangebote (also z.B. Lieferung und Betrieb in einer Region) und auch ein Gesamtangebot für alle Leistungen möglich war.  Alle Angebote sollten dabei vergleichend gewertet werden.

Auch wenn es für die Entscheidung nicht darauf ankam, da die Rüge insoweit präkludiert war (siehe dazu unten zur Erkennbarkeit von Vergaberechtsverstößen), hat das Kammergericht implizit die Auffassung der Vergabekammer Berlin in ihrer vorangegangenen Entscheidung (B. v. 31.10.2023, VK-B1 28/21) bestätigt, dass das Auswertungsvorgehen in diesen Fällen sicherstellen muss, dass alle denkbaren Kombinationen von Einzellosangeboten mit den entsprechenden Kombinations- und Gesamtangeboten verglichen werden. Ist dies nicht gegeben, verstößt das Auswertungsvorgehen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des § 97 Abs. 2 GWB.

Vorgabe von Fremd- oder Drittsystemen

Ein weiterer Rügepunkt, den das Kammergericht als begründet ansieht, betrifft die Vorgabe eines in die Schienenfahrzeuge einzubauenden Zugbeeinflussungssysteme (ZBS). Hierzu hatte der Auftraggeber zwar das Produkt vorgegeben, ansonsten aber keinerlei verbindliche Zusagen z.B. hinsichtlich der (Zu-)Lieferfristen für das ZBS gemacht.

Ansatzpunkt für die Argumentation des Kammergerichtes ist vor diesem Hintergrund, dass der Lieferant des ZBS gleichzeitig auch Bewerber/Bieter des Vergabeverfahrens sein könnte.

Zwar sei es an sich unproblematisch, wenn Lieferfristen noch nicht feststehen und der potenzielle (Zu-)Lieferer sich im Vorfeld nur unverbindlich zu seinen Lieferzeitpunkten bzw. –fristen geäußert habe. Die daraus folgenden Leistungsrisiken seien mit entsprechenden kalkulatorischen Risikozuschlägen auf den Angebotspreis durch die Bieter beherrschbar. Allerdings bestehe dieses Risiko für den Lieferanten des ZBS als möglichem unmittelbaren oder mittelbaren Teilnehmer an dem Vergabeverfahren nicht. Er muss bei einem etwaigen eigenen Angebot daher insoweit keine Risikozuschläge kalkulieren und hätte daher bei seinem Angebotspreis einen entsprechenden Preisvorteil. Dies stellt aus Sicht des Kammergerichts einen Verstoß gegen den vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 97 Abs. 2 GWB dar. Zur vergaberechtskonformen Beseitigung der Ungleichbehandlung müssten durch entsprechende Leistungs- und Vertragsbedingungen alle Bieter von dem Zulieferrisiko freigestellt werden.

Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers

Obwohl das Kammergericht den Nachprüfungsantrag in der Hinsicht als unbegründet ansieht, äußert sich das Gericht nochmal ausführlich zum Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers.

Es bekräftigt, dass das, was der öffentliche Auftraggeber beschaffen möchte, grundsätzlich im Bereich seiner Beschaffungsautonomie liegt. Der öffentliche Auftraggeber darf so beschaffen, wie es seinem Bedarf entspricht. Er ist nicht verpflichtet, so zu beschaffen, wie es den Bietern oder Teilen von ihnen angenehm wäre, soweit er sich an die wenigen, seine Beschaffungsautonomie einschränkenden kartellvergaberechtlichen Vorgaben hält (KG, a.a.O., Rn. 96.

Vergaberechtlich bedenklich seien allenfalls Vorteile, die einem Bestandsunternehmen aus seiner bisherigen Leistungsbeziehung zum Auftraggeber erwachsen wären und deswegen zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung ausgleichspflichtig sein könnten. Allgemeine Bestimmungen zum Leistungsgegenstand, auf die sich sämtliche am Vergabeverfahren teilnehmende Unternehmen mit ihrem unterschiedlichen Leistungsspektrum und ihren Schwächen und Stärken mehr oder weniger einstellen müssen, sind dagegen vom Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers gedeckt (KG, a.a.O, Rn. 127).

Insbesondere kann er eine bewährte Lösung zum Gegenstand der Ausschreibung eines Anschlussauftrags machen, auch wenn die möglicherweise dem Unternehmen zugutekommt, das bisher für ihn tätig geworden ist. (KG, a.a.O, Rn. 127). Dies stelle weder einen Verstoß gegen das Gebot produktneutraler Ausschreibung gem. § 31 Abs. 6 S. 1 VgV noch gegen das Gleichbehandlungsgebot des § 97 Abs. 2 GWB dar. Die gerügten Beschaffungsvorgaben würden keine Vorteile darstellen, die dem Bestandsunternehmen aus seiner bisherigen Leistungsbeziehung zu dem Auftraggeber erwachsen wären und „deswegen zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung ausgleichspflichtig sein könnten, sondern um allgemeine Bestimmungen zum Leistungsgegenstand, auf die sich unabhängig von der Vorbefassung des Bestandsunternehmens sämtliche am Vergabeverfahren teilnehmende Unternehmen mit ihrem unterschiedlichen Leistungsspektrum und ihren Schwächen und Stärken mehr oder weniger einstellen müssen.“ (KG, a.a.O., Rn. 127)

Es bestehe auch „kein Erfahrungssatz, dass Bestandsunternehmen bei der fortgeschriebenen Beschaffung von Leistungen stets einen Wettbewerbsvorteil hätten. Vielmehr können Bestandsunternehmen aufgrund der von ihnen gewählten Lösungen auch Wettbewerbsnachteile haben, weil sie nicht so wie neu anbietende Unternehmen unbefangen von der bisherigen Auftragsdurchführung anbieten können, sondern in ihren alten Lösungen, die nicht notwendig die wirtschaftlichsten sein müssen, verhaftet sind. Dass diese Nachteile von den Vorteilen aus der Kenntnis des Auftraggebers und Auftragsgegenstandes auch nur aufgewogen würden, lässt sich nicht ohne weiteres feststellen.“ (KG, a.a.O., 3362, Rn. 128)

Erkennbarkeit von Vergaberechtsverstößen

Das Kammergericht weist zunächst darauf hin, dass für die Frage der Erkennbarkeit grundsätzlich immer auf alle zum jeweiligen Zeitpunkt veröffentlichte Vergabeunterlagen abzustellen ist. Werden daher bereits im Teilnahmewettbewerb Vergabeunterlagen veröffentlicht, die für die Bieter eigentlich erst für die Angebotsphase relevant sind, muss der Bewerber diese trotzdem bereits sichten, auf erkennbare Vergaberechtsverstöße prüfen und im Zweifel vor Ablauf der Teilnahmefrist rügen (KG, a.a.O., Rn. 24).

Darüber hinaus hält das Kammergericht fest, dass in der Regel Mängel in der Aus- und Bewertungsmethodik, die zu einer Ungleichbehandlung führen können, von jedem durchschnittlich fachkundigen Bewerber/Bieter erkannt werden können. Von einem auch nur durchschnittlich sorgfältigen Unternehmen kann erwartet werden, dass es sich mit Basisfragen einer Ausschreibung, nämlich der Frage, wie die Wertung der Angebote nach den Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers vorgenommen werden soll, auseinandersetzt (KG, a.a.O., Rn. 22). Auch aus einer laienhaften Sicht sind in dieser Weise insbesondere alle Bedingungen erkennbar, die laienhaft „ungerecht”, „unfair” oder „unverständlich” sind, die „dem Bieter Unmögliches abverlangen”, insbesondere ihm „die Erstellung und Kalkulation eines Angebotes unmöglich machen oder unzumutbar erschweren” oder ihn „unübersehbaren Risiken” aussetzen (KG, a.a.O., Rn. 37).

Fazit

Die Entscheidung enthält insbesondere zum Leistungsbestimmungsrecht und zur Erkennbarkeit von Verfahrensmängeln noch einmal wertvolle Präzisierungen und Klarstellungen.

Insbesondere die Ausführungen des Kammergerichtes zu Preispositionen und Gleichbehandlung führen allerdings in der Konsequenz zu massiven praktischen Abgrenzungsproblemen. Bislang wurde überwiegend davon ausgegangen, dass Angebotsvorteile, die der Bestandslieferant aus seiner Stellung als Bestandslieferant hat, vergaberechtlich hinzunehmen sind. Auch das Kammergericht scheint hiervon nicht generell abrücken zu wollen und führt dazu die Kategorie der „aufgrund seiner langjährigen Stellung als Bestandsunternehmen konkret auf den Beschaffungsbedarf bezogenen günstigeren Ausgangsposition“ ein. Wann ein solcher Vorteil in Abgrenzung zur „auf einer im freien Wettbewerb errungenen Marktstellung“ vorliegt, bleibt völlig unklar, da das Kammergericht hinsichtlich objektiver Abgrenzungskriterien keinerlei konkrete Aussagen macht. Dies gilt umso mehr, wenn die Tätigkeit als Bestandsunternehmen im freien Wettbewerb, d.h. in einem ordnungsgemäßen Vergabeverfahren errungen wurde. Im vorliegenden Fall war das nicht der Fall, da es sich bei dem Bestandsunternehmen um eine mehrere Jahrzehnte alte und daher noch nicht nach den Grundsätzen des heutigen Vergaberechts vergebenen Leistungsbeziehung handelt. Dies wäre aus hiesiger Sicht zumindest ein nachvollziehbares und praktikables Abgrenzungskriterium. Ob dies allerdings auch aus Sicht des Kammergerichtes der entscheidende Faktor war, wird in dem Beschluss leider nicht ausgeführt.

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